Daniel Bischof

Dr. phil – Psychoanalytiker

Fachpsychologie für Psychotherapie FSP

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Nadryw – wer bin ich ?

Ein Wort taucht auf im Roman von Dostojewskij. ‘Nadryw’ – die Übersetzerin hält es für unübersetzbar.[1] Es gibt es nur im Russischen. Für uns muss es aus dem Zusammenhang erschlossen werden. Dies macht es umso interessanter. Es bezeichnet den Versuch, die Einzigartigkeit des Selbst beim Zusammenstoss mit dem Dasein zu behaupten. Dostojewskijs Geschichten sind voll von diesen Schicksalen. Warum haben wir, hat das Deutsche, kein Wort dafür? Vielleicht, weil wir zu sehr auf das Äussere achten.

Kann man heute im Ernst noch danach fragen, was das Selbst ist? Ist dieses Wort nicht durch Werbung und Kommerz so unglaubwürdig geworden, dass es eher für Schein statt Sein steht. Glaubt denn irgendjemand tatsächlich, dass ein Parfum oder ein Auto über ein beeinträchtigtes Selbstbild hinweghelfen kann?

Vielleicht irgendwo schon. Wir sind reif für artifizielle Mythologien, wenn die alten uns abhanden gekommen sind.

Das Selbst ist in Verruf geraten. Und ganz offensichtlich meint ‘myslf’ nicht das Gleiche wie ‘nadryw’.


[1] Swetlana Geier hat in einem Kommentar zum Roman ‘Ein grüner Junge’ geschrieben: «Das Substantiv ‘Nadryw’ bezeichnet den Versuch, die Einzigartigkeit des Selbst beim Zusammenstoss mit dem Dasein zu behaupten.  Das Experiment der Freiheit besteht in der Rebellion gegen die Gesetze der Natur und Logik. Eine Form der Selbsterfahrung, die gleichzeitig eine Selbstkorrektion ist, findet im Schreiben statt.» (Dostojewskij,F.,Ein grüner Junge,Frankfurt a.M.,Fischer Verlag 2011,S.814)

Dabei ist das, was man unter dem Selbst auch verstehen kann, etwas sehr Entscheidendes für unser Wohlbefinden und die Art, wie wir uns durchs Leben schlagen. Es gestaltet unsere Beziehungen und Ziele, die wir im Leben erreichen wollen. Es bestimmt, ob wir die Ereignisse, die uns widerfahren, an uns herankommen lassen, ob wir Freude oder Trauer ertragen. Und es erlaubt oder verbietet eine Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und mit den Gefühlen, die damit verbunden sind. Das heisst auch, es kommt auf unser Selbst an, ob wir uns der eigenen Person, unseren Mitmenschen und der Welt überhaupt zuwenden können. Ob wir ihr mit Neugier und Interesse begegnen oder ob wir uns hinter Vorurteilen und vorgefassten Meinungen verstecken und uns im Glauben wähnen, alles schon zu wissen.

Dann gibt es bei jedem Menschen auch unterschiedliche Formen des Selbst. Eine gängige Einteilung spricht vom gefälligen und vom geheimen Selbst. Befindet man sich im Modus des gefälligen Selbst, bemüht man sich mit den anderen Menschen in Übereinstimmung zu leben und ist auch bereit, die eigenen Wünsche und Vorstellungen hinten an zu stellen. Das geheime Selbst tritt meist nicht offen in Erscheinung. Meist kennt man es kaum und kann es deshalb auch nicht angemessen zur Geltung bringen. Es hat etwas Radikaleres und Leidenschaftlicheres als das gefällige Selbst.

Wenn man die Dinge so beschreibt, dann muss man davon ausgehen, dass es um die ausgewogene Mischung der beiden Tendenzen geht. Kein Mensch kann nur gefällig sein. Und wenn er es trotzdem tut, dann läuft er Gefahr, sich zu überlasten und zu erkranken. Andererseits trifft derjenige, der seine Wünsche radikal durchsetzt, auf eine Gegenbewegung der Andern. Er eckt an und droht aus der menschlichen Gemeinschaft hinauszukippen.

Wie also schaut man sich selbst? Wie bringt man diese ausgewogene Mischung zwischen Gefälligkeit und Geheimnis zustande?

In der Folge werde ich mich etwas mit der Ideengeschichte zu diesem Thema auseinandersetzen. Wir werden sehen, dass es eine Frage ist, die die Menschen schon sehr lange beschäftigt, und zwar in einem sehr ernsten, philosophischen Sinn. Aus diesen Gedanken haben dann Psychologen wie Freud, Jung oder Winnicott ihre Schlüsse gezogen und sie mit ihrer klinischen Erfahrung verbunden.